Lesestunde 04.10.2010

Kid Dynamite ärgert sich, dass nicht einmal Associated Press versteht, wie Aktienindizes funktionieren, und fühlt sich bemüßigt, es deshalb leichtverdaulich zu erklären.

Portfolio Probe erklärt die Unterschiede zwischen der normalen Renditeberechnung R(t)=p(t)/p(t-1)-1 und der weitverbreiteten Approximation durch die Differenz der logarithmierten Preise r(t)=ln(p(t))-ln(p(t-1)).

Edward Chancellor stellt sich die Frage, warum die Immobilienmärkte in USA, Großbritannien, Spanien und Australien – die alle eine ähnlich blasenhafte Entwicklung vor der Krise hatten – sich in und nach der Krise so unterschiedlich entwickelt haben: Während in den USA die Preise drastisch zurückgingen, blieben sie in Großbritannien und Spanien bei verhältnismäßig leichten Verlusten stabil, und in Australien steigen sie schon wieder. Er findet Erklärungen auf der Angebotsseite und auf der Nachfrageseite: In den USA führte der Boom zu starken Neubauzahlen, die jetzt als Überhang auf dem Markt die Preise drücken, während in Großbritannien und Australien nur wenige Neubauten entstanden sind, es muss also kein Angebotsüberhang durch Preissenkung abgebaut werden. Eine weitere Ursache sind die Finanzierungsstandards: In den USA sind die meisten Hypotheken langfristig zinsgebunden, und die langfristigen Zinsen sanken erst nach der Lehman-Pleite – Immobilienbesitzer haben also nicht vom Zinsrückgang profitiert. In Großbritannien und Australien sind die Hypothekenzinsen in der Regel flexibel, die Zinssenkungen wurden also an die Schuldner weitergegeben. Offen bleibt, warum in Spanien die Blase nicht ähnlich wie in den USA geplatzt ist, da hier ähnliche Bedingungen herrschen, vor allem eine massive Ausweitung des Angebots. Chancellor hält es deshalb für möglich, dass es in Spanien noch zu einer stärkeren Krise kommt, wenn offizelle und inoffizielle Unterstützung des Marktes durch den Staat zu Ende gehen.

Fun Fact of the Day: Bis Anfang der 1960er Jahre war die Grenzsteuerrate in den USA für Einkommen über 200.000 US-$ (ca. 2 Mio. heutiger Kaufkraft) bei 91%!

Während in Europa, vor allem in Deutschland, die Erholung zunehmend robust aussieht, steigt in den USA die Gefahr einer zweiten Rezession, wenn man die private Konsumnachfrage als Frühindikator betrachtet – dieser sinkt 2010 stärker als selbst in 2008/9.

p-value als Fetisch: Tom Leistner diskutiert ein neues Buch „The Cult of Statistical Significance“, das versucht deutlich zu machen, dass der Wert der statistischen Signifikanz keine Aussage beinhaltet über den tatsächlichen Einfluss eines Faktors, und das sich über die Praxis in der Wissenschaft beschwert, statistische Analysen vor allem in Hinblick auf den Signifikanzwert, und nicht den Koeffizienten zu bewerten (Zitat von Notices of the AMS):

A major point in The Cult of Statistical Significance is the observation that many researchers are so obsessed with statistical significance that they neglect to ask themselves whether the detected discrepancies are large enough to be of any subject-matter significance.  Ziliak and McCloskey call this neglect sizeless science.
[…]
In one study, they have gone over all of the 369 papers   published in the prestigious journal American Economic Review  during the 1980s and 1990s that involve regression analysis.  In the 1980s, 70 percent of the studied papers committed sizeless science, and in the 1990s this alarming figure had increased to a stunning 79 percent.

Der IMF hat seine Ideen zur notwendigen Reform der Finanzmarktregulierung gepostet.

Lesestunde 02.10.2010

Okay, worüber bin ich heute gestoplert?

Ein neues Paper zur Frage, wie Finanzmarktblasen entstehen, wurde von Andrew Odlyzko veröffentlich. Dieser kommt zum Schluss, dass hierfür vor allem die Leichtgläubigkeit der Investoren verantwortlich ist, und schlägt einen Index zur Messung der aktuellen Leichtgläubigkeit vor. Dieser misst die erwartete Rendite (normalerweise 10% für Aktien p. a., in Blasenzeiten ca. 20%), untersucht die Verbreitung von Zahlenanalphabetismus, die in Boomzeiten anscheinend zunimmt, und die Erfolgsrate von Nigera-Spam. Die Autoren von FT Alphaville haben aber Zweifel, dass die Verfügbarkeit eines solchen Index das Auftreten von Blasen verhindern würde, da sie bezweifeln, dass sich Anleger an Fundamentalwerten orientieren. Vielmehr gehen sie davon aus, dass sich Anleger am erwarteten Verhalten der anderen Investoren orientieren, was wiederum in den Bereich rationaler Blasen führt.

FT Alphaville hat eine interessante Geschichte aufgeschnappt: Demnach wurde der Eigenhandel (prop trading) von den Banken bereits unmittelbar nach der Krise deutlich eingeschränkt, wie man am Rückgang des Eigenkapitalhebels sieht.

Entwicklung des Eigenhandels 2008-2010

Entwicklung des Eigenhandels 2008-2010

Tim Harford hat einen schönen Artikel über verschiedene Modelle der Wachstumstheorie. Für mich ist dies das optimistischste Fach, dass es in der Volkswirtschaftslehre gibt, denn sie zeigt, dass auch die schwersten negativen Schocks in relativ kurzer Zeit überwunden werden können – die beeindruckendste Grafik war für mich dabei, wie mit einer einfachen Differentialgleichung das deutsche Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit zu einem Gutteil erklärt werden kann.

BIP (log) Deutschland 1850-2008

BIP (log) Deutschland 1850-2008

Daten: Maddison

Felix Salmon verlinkt auf einen Artikel, der die Reprivatisierung von AIG unter die Lupe nimmt, und der zu folgenden offenen Fragen führt:

  1. The fact that we’re doing this conversion in the first place. The preferred stock we currently own pays a regular coupon, while the equity we’re swapping it for was described as worthless by AIG itself not so long ago.
  2. The fact that as part of the deal we’re giving current AIG shareholders free warrants to buy stock at $45 per share. Which is very generous of us, but what have they done to deserve this?
  3. Most importantly, the fact that the stock we’re swapping into is worth less, at current valuations, than the preferred stock we’re swapping out of. To the tune of about $6.6 billion.

Lesestunde 01.10.2010

Die FED hat eine Untersuchung veröffentlicht, welchen Effekt Quantitative Easing (also unorthodoxe expansive Geldpolitik wie der Ankauf von T-Bonds durch die FED) auf die Zinsstruktur hat, wie FT Alphaville berichtet: Demnach wurde durch die Politik die Zinsstrukturkurve insgesamt um 50 Basispunkte nach unten verschoben – wie die Autoren der Studie feststellen, ein überraschend großer Effekt, wenn man bedenkt, dass die Aktion für den Markt nicht überraschend war (und daher eigentlich vom Markt hätte antizipiert werden müssen).

John Kiff argumentiert im Blog des IMF, dass die Dominanz der Ratingagenturen endlich beendet werden muss.

Martin Wolf verzweifelt derweil am IFM, die zumindest in Hinblick auf wirksame Wirtschaftspolitik noch im alten Dogma gefangen sind: Überschuldete Staaten müssen demnach Haushalte drastisch zusammenstreichen, selbst wenn dies zu einem Zusammenbruch der Konjunktur (und damit verbunden weitere Rückgänge der Staatseinnahmen) führt. Hier scheint der IFM aber nur noch nicht in Politik umzusetzen, was von seinen Volkswirten schon festgestellt wurde, da ein Diskussionspapier des IFM zu dem Schluss kommt, dass Einschnitte im Staatshaushalt keinen positiven Wachstumseffekt haben.

Duff McDonald dokumentiert die Diskussion an der Wall Street, ob der Finanzsektor in den USA nicht ein klein wenig zu groß geworden ist – vernünftige Stimmen gehen davon aus, dass der Sektor ungefähr auf die Hälfte schrumpfen wird, oder, in den Worten von Marktbeobachter Jeremy Grantham

The financial services industry accounted for just 3% of GDP in 1965. By the end of 2007, that proportion was a remarkable 7.5%. This extra 4.5% would seem to be without material value except to the recipients.

Felix Salmon kommentiert den Denkfehler bei der Diskussion in den USA über die Steuererhöhung für Einkommen über 250.000 US-$: Wie auch Jonathan Chait betont, ist es ein Denkfehler anzunehmen, durch diese Erhöhung würden Haushalte mit einem Einkommen von 250k genauso besteuert werden wie Haushalte mit 5 Mio. Einkommen, da der höhere Steuersatz nur für das Einkommen angewendet wird, das über 250k liegt – bei einem Haushalt mit 250.001 $ also nur 1 $, aber beim Haushalt mit 5 Mio. 4,75 Mio.

Brad DeLong verdeutlicht, dass die Rezession – vor allem in den USA – ein Ergebnis des Nachfragezusammenbruchs ist, und dass deshalb Staatsausgaben nicht verringert werden sollten, und dass es noch genügend Spielraum bei der Neuverschuldung für die USA gibt.

Die IgNobel-Preise wurden vergeben. Gewürdigt wurden dieses Jahr u. a. die Arbeit von Rietveld und van Beest, die feststellen, dass Asthma-Symptome durch Achterbahn-Fahrten verringert werden können (Medizin), Stephens, Atkins und Kingston für den Nachweis, dass Schimpfen Schmerzen lindert (Frieden) und Pluchino, Rapisarda und Garofalo für das Ergebnis, dass Organisationen sich besser entwickeln würden, wenn Beförderungen zufällig verteilt würden (Management). Bemerkenswert natürlich auch die Arbeit von Zhang et. al., die für die Dokumentation des Fellatio bei Fledermäusen mit dem IgNobel-Preis für Biologie ausgezeichnet wurden.

Die Humor Session mit Youram Bauman bei der AEA:

Barry Ritzhold hat derweil 10 Vorschläge für einen neuen Goldman Sachs Claim.

Top 10 Ideas for Goldman Sachs New Ad Campaign

10. Under Buffett’s protection since 2008

9. Putting the zero in zero-sum game.

8. Government Bailout: $29 billion
SEC Settlement: $550 million
Doing God’s work? Priceless.

7. Helping you forget about Bernie Madoff one CDO at a time

6. Goldman Sachs: America’s Counterparty

5. Let us do for you what we did for Greece.

4. Like we give a fuck what you think about us . . .

3. Goldman Sachs: There are some things money can’t buy. For everything else, there’s JPMorgan.

2. The Rothschilds were Pussies

And the number 1 advertising slogan for the new Goldman Sachs ad campaign:

1. We put the douche in fiduciary

Revolution zeigt, wie man in 14 Code-Zeilen mit R eine Animation der Mandelbrot-Menge erstellt. (Auf die Grafik klicken für die Animation)

Klick mich!

Lesestunde 30.09.2010

Okay, ein paar Links und Zusammenfassungen:

Im letzten Artikel schrieb ich über die Schwierigkeiten, die Leute haben, die Einkommensverteilung und ihre Position darin abzuschätzen. Dan Ariely hat diese Frage in Hinblick auf die gewünschte Vermögensverteilung untersucht: Er bittet Versuchsteilnehmer zunächst die Verteilung des Vermögens in den USA abzuschätzen, und dann macht er das folgende Gedankenexperiment: Der Teilnehmer möge sich bitte vorstellen, welche Vermögensverteilung sie sich wünschen, wenn sie neu in eine zufällige Position der Vermögensverteilung gelost würden. Die rationale Erwartung wäre, dass dann eine Gleichverteilung des Vermögens gewünscht würde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmer die Ungleichverteilung des Vermögens noch deutlich unterschätzen, dass sie sich aber – unabhängig von politischen Ansichten oder jetzigem Einkommen – eine weitaus gleichmäßigere Einkommensverteilung wünschen als aktuell gegeben.

Creative Accounting – nachdem die Griechen vorgemacht haben, wie man Statistiken zurechtbiegt, kommt von FT Alphaville eine Meldung, dass Spanien seine Wachstumsraten geschönt hat – um bis zu 14,2%! Grundlage des Artikels war eine anonyme E-Mail, aber die Argumente, die in der E-Mail vorgebracht werden, lassen zumindest Zweifel aufkommen, dass in Spanien die Bücher ordentlich geführt wurden.

Irland hat heute die Bedingungen für das Bail-out von Allied Irish Banks bekannt gegeben. Demnach ist die Belastung für den Haushalt 29,3 – 34,3 Mrd. €, und Irland erwartet ein Haushaltsdefizit von 32% des BIP.

Tatsächliche und wahrgenommene Einkommensverteilung

In den USA wird zur Zeit darüber diskutiert, Steuererleichterungen für Haushalte über 250.00US-$ auslaufen zu lassen. Dieser Vorschlag ist bei weitem nicht so populär in Zeiten angespannter Haushalte, wie man glauben sollte. Dies könnte unter anderem an einer deutlichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Position eines Haushalts bei der Einkommensverteilung liegen und der wahrgenommenen Position, wie David Brooks in der New York Times berichtet:

The most telling polling result from the 2000 election was from a Time magazine survey that asked people if they are in the top 1 percent of earners. Nineteen percent of Americans say they are in the richest 1 percent and a further 20 percent expect to be someday. So right away you have 39 percent of Americans who thought that when Mr. Gore savaged a plan that favored the top 1 percent, he was taking a direct shot at them.

19% der Befragten glaubten also, zu den Top-1% der Einkommen zu gehören, und weitere 20% glauben, eines Tages zu dieser Gruppe zu gehören. Fast die Hälte der Amerikaner fühlen sich also von Steuererhöhungen für die Top-1%-Verdiener bedroht, was dann auch erklärt, warum die Republikaner erfolgreich gegen die Steuererhöhung für diese Gruppe opponieren kann.